FLUCHT UND VERTREIBUNG AUS UNGARN IM DEZEMBER 1944

Dokumentarfilm über eine Zeitzeugin

Gewaltsame Auseinandersetzungen und Angst vor Repressalien zwingen Menschen zur Flucht – vor mehr als 75 Jahren und genauso wie heute. Der Zweite Weltkrieg (1939 – 1945) löste eine riesige Flüchtlingswelle aus. Etwa 14 Millionen Deutsche oder Deutschstämmige befanden sich auf der Flucht bzw. wurden aus den damaligen Ostgebieten vertrieben; 2 Millionen kamen nicht an und starben. Sie fielen der Kälte oder dem Hunger zum Opfer – viele alte, kranke und schwache Menschen hatten nur geringe Überlebenschancen.

Das „Wachhalten“ dieser Geschehnisse, die auch einen Teil der jüngeren Ortsgeschichte von Eitensheim darstellen, ist dem Heimatverein ein wichtiges Anliegen. So hat er bereits in 2008 unter Federführung von Andreas Hirsch die Sonderausstellung „Heimatvertriebene, Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer“ im Heimatmuseum präsentiert. Ziel der Ausstellung war, nicht zu richten, sondern zu berichten und das Ausmaß sowie die vielfältigen Probleme aufzuzeigen, welche mit den Auswirkungen des verlorenen Zweiten Weltkrieges auf die Verantwortlichen der Gemeinde und ihre Bürgerinnen und Bürger zukamen. All das persönliche Leid und Elend der Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgefangenen, die in den Ort kamen, dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Nun bereitete der Heimatverein dieses Thema erneut in Form eines Dokumentarfilms auf. Anton Baumann drehte in 2017 einen Film zum Thema „Flucht und Vertreibung aus Miklósi (Ungarn) im Dezember 1944“ mit Willi Schneider als Moderator und Maria Schwarz als Hauptdarstellerin. Dieser Film – eine Erzählung von Maria Schwarz – ist ein Zeitdokument zum Thema „Heimatvertriebene bzw. Flucht aus Ungarn“. Der Film mit der Zeitzeugin wurde mit anschaulichen, stimmungsvollen Bildern entsprechend dem Interview-Verlauf unterlegt und nun Corona-bedingt etwas verspätet erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

Der Film handelt von der Flucht von Maria Schwarz (geb. Nieselberger), die als 12-Jährige gemeinsam mit ihrer Familie und weiteren Bürgern aus Miklósi (Ungarn) im Dezember 1944 aus Angst vor gewaltsamen Übergriffen und Gräueltaten der heranrückenden russischen Soldaten ihr Heimatland verlassen hat, obdachlos wurde, sich über Österreich bis nach Deutschland durchschlug und in eine ungewisse Zukunft aufbrach.

Mit der sowjetischen Sommeroffensive 1944 in Ungarn fing alles an; im Winter flohen viele Ungarndeutsche vor der heranrückenden Roten Armee; zu Fuß, mit Handwagen, mit Pferdewagen oder Güterzug in den Westen des Deutschen Reiches.

Bei ihrer Erzählung spannte Maria Schwarz einen Zeitbogen vom 02.12.1944, als sie als 12-Jährige ihre ungarische Heimat verließ, bis zum 05.12.1945, als sie nach einem Jahr in ihrer neuen Heimat in Eitensheim ankam.

Maria Schwarz ist in Miklósi, ca. 30 km südöstlich vom Plattensee in Ungarn gelegen, geboren und hat die Folgen des Zweiten Weltenkrieges hautnah miterlebt. Am 01.12.1944 – die kalte Jahreszeit war hart und bereits früh hereingebrochen – hat die russische Armee die Donau überquert und rückte in Richtung Plattensee vor. In der Nacht zum 02.12.1944 war bereits Kanonendonner in ihrem Ort (mit etwa 900 Einwohner / bis auf zwei ungarische Familien waren alle deutschstämmig) zu hören; die russischen Soldaten kamen immer näher.

In dieser Nacht hat ihr Vater, Peter Nieselberger (geb. 1906), einen Flüchtlingstreck mit 80 Personen organisiert und versucht diese Leute im Schutz der Dunkelheit in Sicherheit zu bringen. Unter seiner Leitung haben sich seine Familie (Ehefrau mit Tochter Maria und Sohn Peter und Großeltern) und weitere Verwandte und Bürger von Miklósi auf den Weg Richtung Westen begeben. Dem Treck gehörten zumeist Frauen und ältere Leute sowie 15 Kinder an.

Der aus Pferdefuhrwerke bestehende Flüchtlingstreck wollte – wenig geschützt vor dem eisigen Winter – zum Plattensee, um dort mit der Fähre überzusetzen. Ihr Vater – der die Einzeletappen der Fluchtroute immer im Voraus per Fahrrad erkundete, um die russische Armee zu umgehen – musste feststellen, dass die letzte Fähre bereits abgelegt hatte und der Fährbetrieb wegen der Nahe kommenden russischen Armee eingestellt war. In Folge musste der Treck einen Umweg in Richtung Nordosten (in die entgegengesetzte Richtung) entlang des Plattensees machen; dabei kamen sie der russischen Armee immer näher. So war der Flüchtlingstreck zwei Tage und zwei Nächte mit den Pferdefuhrwerken ohne Pause unterwegs – immer die russische Armee „im Nacken“.

Dann hat sich der Treck aufgelöst. Manche, ohne Fuhrwerk oder deren Pferdefuhrwerke überladen waren, machten sich nun mit dem Zug auf in Richtung Westen. Die Familie Nieselberger zog mit ihrem vollbeladenen Pferdefuhrwerk weiter und kam nach acht Tagen am Neusiedler See, an der Grenze zu Österreich – nach ca. 250 km – an. Am 31.12.1944 wurde das gesamte Pferdegespann in einen Güterzug geladen, durchquerte ganz Österreich und erreichte nach ca. 700 km Burgkunstadt (nähe Lichtenfels) in der Oberpfalz.

Mit der noch in Ungarn erfolgten Auflösung des Flüchtlingstrecks haben sich die Flüchtlinge in unterschiedliche Richtungen verstreut; die Kontakte rissen ab. Ihr Vater holte die in Schlesien (polnische Besatzungszone) gestrandeten restlichen Familienmitglieder im Februar 1945 in die Oberpfalz nach. Bis September 1945 (der Zweite Weltkrieg war bereits mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 08.05.1945 in Europa zu Ende) verbrachte die „Groß“-Familie Nieselberger mit acht Personen im ehemaligen Kindergarten von Gärtenroth (8 km östlich von Burgkunstadt).

Im August 1945 erging von den amerikanischen Besatzern der Befehl zum Rücktransport nach Ungarn – wieder zurück, wo sie hergekommen sind – und damit wieder in eine ungewisse Zukunft. Deshalb musste sich die Familie Nieselberger im September 1945 in ein Lager bei Bamberg begeben, um von dort aus die Rückführung nach Ungarn anzutreten. Mit der Bahn ging es wieder bis zur österreichischen/ungarischen Grenze. Von dort aus – bereits auf ungarischen Boden – sollten sie gegen Anfang November 1945 zu Fuß weiter Richtung Plattensee marschieren. Gemäß Befehl durften sie nur das mitnehmen, was sie tragen konnten.

Überraschenderweise kam es jedoch anders. Es ging mit der Bahn weiter; keiner wusste wohin – Ziel war die amerikanische Besatzungszone in Wien. Dort wurden sie von den amerikanischen Soldaten mit einem Essen pro Tag versorgt. Da sie nicht in Österreich bleiben durften (Österreich war nicht verpflichtet Flüchtlinge aufzunehmen), setzte sich der Weg Anfang Dezember 1945 mit der Bahn nach Deutschland fort, wo sie in einem Lager in München untergebracht wurden. Von dort führte die nächste Etappe in der Nacht vom 04. zum 05.12.1945 mit der Bahn nach Ingolstadt und danach am 05.12.1945 nach Eitensheim.

Nach ihrer einjährigen Odyssee (Aufbruch am 02.12.1944) war die Familie Nieselberger nun endlich im Ort Eitensheim, der ihre neue Heimat werden sollte, angelangt. Die Familie Nieselberger mit sechs Personen (Eltern, Kinder, Großeltern) fanden im Gutshof Kanzler eine „Bleibe“. Im Gutshof waren bis zu 78 Flüchtlinge untergebracht.

Nachdem sie mit leeren Händen den Neuanfang wagten, haben ihr Vater (Beruf: Zimmerer) und ihr Großvater (Mauerer) bereits im Sommer 1950 zusammen ein eigenes Haus im Birkenweg errichtet. Dies war das erste „Flüchtlings“-Haus in einem bis dahin noch unbebauten Gelände.

Maria Schwarz verstarb eine Woche nach der Filmvorführung, kurz nach Vollendung ihres 89. Lebensjahres im Seniorenheim.

Situation der Flüchtlinge und Vertriebene in Eitensheim

Mit der Familie Nieselberger kamen insgesamt 20 Personen in Eitensheim an – dies waren die ersten Flüchtlinge in Eitensheim. Mit der einsetzenden Flüchtlingswelle und der folgenden Odyssee der Heimatvertriebenen wuchs diese Zahl bis auf 616 an. In Eitensheim mit einer Größe von 998 Einwohner fanden sich von 1945 bis 1948 Flüchtlinge aus Tschechoslowakei (412), aus Ungarn (98), aus Schlesien / Pommern (74), aus Jugoslawien (17), aus Rumänien (7) und aus anderen Gebieten (8) ein, die eine Unterkunft suchten; wobei einige im Rahmen der Familienzusammenführung – nach einer Übergangszeit – Eitensheim wieder verließen. Durch die Einquartierung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen wuchs Eitensheim im Jahre 1950 auf 1.530 Einwohner an.

Info: Flüchtlinge / Vertriebene

Die Themen „Flucht und Vertreibung“ und „Integration der Flüchtlinge“ sind heute noch genauso aktuell wie damals. Im Gegensatz zu heute waren nach dem Zweiten Weltkrieg die Flüchtlinge zumeist Deutschstämmige. Sprache, Kultur, Religion und Mentalität waren nicht fremd. Deutschland hat damals zwölf Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aufgenommen – fast acht Millionen fanden Obdach in der späteren BRD und vier Millionen nahm die spätere DDR auf.

Die Flüchtlinge trafen in Deutschland auf Menschen, die durch Bombenangriffe und Kriegshandlungen selbst kaum über das Nötigste zum Leben verfügten. Es waren große Herausforderungen zu stemmen. Es mangelte an Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten, Wohnraum, Kleidung, Heizmaterial und Arbeit. Viele Heimatvertriebene mussten jahrelang in Auffanglagern oder Baracken leben, Wohn- und Lebensraum mussten erst neu geschaffen werden. Daher wurden die Neuankömmlinge oftmals misstrauisch beäugt und nicht selten feindselig behandelt.

Grundsätzlich ist zu unterscheiden:

  • Als Flüchtlinge werden Personen bezeichnet, „die als Folge der Ereignisse (Krieg, politische Zwangsmaßnahmen, bedrohliche Notlagen) ihren Wohnsitz (Heimat) mit Rücksicht auf Gefahr für ihr Leben und Freiheit verlassen haben“.
  • Vertriebene hingegen sind „Personen, die mit Gewalt oder sonstigen Zwangsmitteln aus ihrer Heimat entfernt werden, gleichgültig ob dem eine völkerrechtliche Übereinkunft zugrunde liegt oder nicht.“

In der Praxis sind die Grenzen zwischen Flucht und Vertreibung oft verwischt. Viele Bewohner der deutschen Ostgebiete erlebten beides, Flucht und Vertreibung.

Info: geschichtlicher Hintergrund in Ungarn

Die expansionistische Siedlungspolitik unter dem nationalsozialistischen Regime (NS-Diktatur) hat zahllose Opfer gefordert. Die Antwort auf die Gewaltverbrechen der Nazis in den besetzten Gebieten war die systematische Vertreibung der Deutschen aus den osteuropäischen Ländern. Parallel zu den großen Fluchtwellen begann zwischen Winter 1944 und Sommer 1945 die systematische Vertreibung der Deutschen aus den ehemals besetzten Gebieten (Polen, Sudetenland, Randgebiete der böhmischen Länder, deutsche „Wolga-Republik“ auf russischem Territorium, Ungarn, Siebenbürgen, Banat, Kroatien, Serbien, Slowenien und Baltikum).

Im letzten Kriegsjahr hat die ungarische Regierung angesichts der sicheren Niederlage gegen Ende 1944 geheime Waffenstillstandsverhandlungen mit der Sowjetunion geführt. Die Sowjetunion forderte 60.000 bis 65.000 Zivilpersonen. Der Befehl ordnete an, Personen deutscher Abstammung (Männer im Alter von 17 bis 45 und Frauen von 18 bis 30 Jahren) zur Wiedergutmachungsarbeit für zwei Wochen in die Sowjetunion zu transportieren. Sie hatten unter unmenschlichen Umständen im Bergwerk, auf den Feldern, bei der Enttrümmerung oder beim Wiederaufbau zu arbeiten. Die Zweiwochenarbeit dauerte 5 Jahre lang. Viele starben an Ruhr, Infektionen, Unfall, Hunger und Erfrierung. Die verschleppten Ungarndeutsche trafen bei ihrer Rückkehr nach Ungarn in den meisten Fällen ihre Familien in ihren Heimatdörfern nicht mehr an, weil diese mittlerweile vertrieben waren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Ungarndeutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt (als „lebende Reparationszahlung“), oder in Ungarn nach Entnazifizierungsverfahren enteignet und entrechtet oder zwischen Januar 1946 und Juni 1948 nach Deutschland vertrieben.

Die erste Phase der Vertreibung der Ungarndeutschen, die auf Artikel XIII des Potsdamer Abkommens vom 02.08.1945 beruhte (Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland), begann 1946. Über 200.000 Ungarndeutsche mussten in Viehwaggons ihre ungarische Heimat Richtung Deutschland verlassen. Diejenigen, die von der Vertreibung verschont blieben, wurden staatenlos. Die Diskriminierungen führten dazu, dass nach dem ungarischen Volksaufstand im Jahre 1956 viele Ungarndeutsche das Land verließen und nach Österreich, Deutschland, die USA, Kanada oder Australien auswanderten.

Der verlorene Zweite Weltkrieg veranlasste die Siegermächte zu Repressalien gegenüber der Deutschen Bevölkerung in verschiedenen Ländern. Vom Schicksal der Flucht und Vertreibung sowie der Zwangsarbeit war die gesamte deutschsprachige Bevölkerung der ehemaligen Ostgebiete betroffen. Bereits gegen Ende 1944 verließen aus Sorge um ihre Familien viele Menschen ihre Heimat und flohen nach Westen.

Auch heute noch fliehen in den Krisengebieten der Welt jeden Tag Tausende von Menschen aus ihren Städten und Dörfern als Folge von Krieg, Hunger und Elend. Seit 1939 haben ca. 60.000.000 Menschen in Europa ihre Heimat verlassen – müssen.

Willi Schneider lauschte den Ausführungen von Maria Schwarz.